«Helden von Basel» #7: Gabor (71) – Wir sagen DANKE!


Für blinde und sehbehinderte Menschen ist Joggen normalerweise schwierig bis unmöglich. Um ihnen zu helfen, ergreift Gabor (71) Initiative: Er gründet den Verein «Blind Jogging» und wird zu ihrem persönlichen Jogging Guide.
Am 11.07.2020 in Von Basel. Für Basel. von Ekaterina Cámara
«Der Auslöser für 'Blind Jogging' kam nicht aus der Familie. Wir hatten niemanden zu Hause, der blind oder sehbehindert war.», sagt der lebensfrohe Pensionierte, der den gemeinnützigen Förderverein ins Leben rief. «Ich beobachtete an einem Volkslauf, wie ein blinder Läufer ständig an Kreuzungen stehen blieb und sich mit den Füssen eine geeignete Stelle für seinen nächsten Schritt ertastete. Das kostete ihn so viel Zeit.» Er fügt an: «Nur weil ich mit guten Augen gesegnet bin kam ich immer schneller ans Ziel, als er. Doch eigentlich war dieser Mann viel fitter und schneller als ich. Ist das nicht unfair?»

Der ehemalige Vorsorgeberater verspürte das Verlangen, dieser Ungerechtigkeit entgegenzuwirken. Er machte Nägel mit Köpfen und rief innerhalb der 1998 ebenfalls von ihm gegründeten Plattform «Lauftreff beider Basel» 2015 den Verein «Blind Jogging» ins Leben. «Ich wollte, dass blinde und sehbehinderte Menschen die gleichen Chancen beim Laufen bekommen, wie jemand mit gesunden Augen. Auch bemüht sich der Verein um grössere soziale Inklusion Blinder und Sehbehinderter in der Gesellschaft. Das ist uns sehr wichtig.»
Eine falsche Bewegung, ein unaufmerksamer Moment – und schon kann es für den Lauf-Partner gefährlich – ja, sogar lebensgefährlich werden. Bei einem Einsatz ist deshalb immer vollste Konzentration gefragt.
Gabor (71), Gründer des Vereins 'Blind Jogging '

Blind Jogging: Eine Frage des Vertrauens

So kam es, dass der gebürtige Ungare von nun an nicht nur regelmässige Lauftreffs in Basel und Umgebung und mehrwöchige Joggingkurse für sehende Anfänger organisierte, sondern auch begleitetes Joggen mit Blinden. Der Verein verfügt mittlerweile über vierzig Guides und rund dreissig blinde und sehbehinderte Läufer in Basel, Bern und Luzern. Auch kann man sich hier zum Blind-Jogging-Guide ausbilden lassen. Gabor betont: «Die Guides müssen sich bewusst sein, wie wichtig ihr Einsatz für die Menschen ist: Neben dem sportlichen und sozialen Mehrwert, sind sie vor allem für deren Sicherheit zuständig. Ein Guide darf nie vergessen: Er oder sie bekommt das 100-prozentige Vertrauen und agiert als das Auge der Läuferinnen und Läufer.» Gabor wird ganz ernst: «Eine falsche Bewegung, ein unaufmerksamer Moment – und schon kann es für den Lauf-Partner gefährlich – ja, sogar lebensgefährlich werden. Bei einem Einsatz ist deshalb immer vollste Konzentration gefragt.»

Im Vordergrund: Menschlichkeit, nicht sportliche Leistung

Für den Vereinsgründer und nach eigener Aussage «viereinhalbfachen» Grossvater waren Inklusion, Menschlichkeit und der unterhaltende Faktor schon immer wichtiger als die sportliche Leistung der Mitglieder: «Ob bei unseren Angeboten für Sehende oder beim Blind Jogging: Es war nie mein Ziel, eine leistungsorientierte Sache daraus zu machen. Ich möchte an erster Stelle den Spass, die Fröhlichkeit, das gemeinsame Bewältigen von Hürden, aber natürlich auch den Ehrgeiz, die Fitness und das Vertrauen in sich selbst bei den Menschen fördern. Bei uns fällt niemand aus der Reihe, der nicht schnell genug ist. Wir respektieren jeden so, wie er ist und jeder darf und soll hier in seinem persönlichen Tempo mitmachen können. Egal, ob blind oder sehend.»

Tragische Schicksale, starke Persönlichkeiten

Bei manchen Vereinsmitgliedern ist das fehlende Augenlicht angeboren. Doch gibt es auch andere, die zum Teil schwere Schicksalsschläge ertragen mussten und Tragisches erlebt haben. Wie einer von Gabors Lauf-Schützlingen: «Mit 23 Jahren spielte der junge Mann leider Gottes mit einer Waffe. Schliesslich löste sich ein Schuss und ging schnurstracks quer durch seinen Kopf hindurch. Dass er heute überhaupt am Leben ist, ist ein wahres Wunder…», sagt Gabor betroffen und fügt an: «Seitdem ist der junge Mann komplett blind.»

Wie ging es mit ihm weiter? «Er litt anschliessend an schwerster Depression und war akut suizidgefährdet. Erst mehrere Monate nach dem Vorfall konnte er wieder zum ersten Mal lächeln. Doch zum Glück gibt es mittlerweile auch gute Nachrichten: «Beim letzten Birslauf hat er mich nun abgehängt. Und in Biel kam er beim 100km-Lauf sogar unter die besten 20 Prozent von allen Sehenden. Ich bin unglaublich stolz auf ihn.», strahlt Gabor.

Ganz anders die Vorgeschichte eines anderen Vereinsmitgliedes: «Bei einem Mädchen, mit dem wir ebenfalls laufen, ist die Ausgangslage eine andere, aber dadurch nicht weniger tragisch. Sie erfuhr im zarten Alter von 13 Jahren, dass sie einen Tumor im Kopf hatte. Dieser liess sie nun nach und nach erblinden. Jetzt ist sie 14. Im Gegensatz zum jungen Mann von vorhin konnte sie sich auf den Verlust des Augenlichtes vorbereiten. Falls man das überhaupt irgendwie kann…». Gabor wird nachdenklich.

Weitermachen – egal, wie schwer es fällt

Gabor und sein Team versuchen blinden und sehbehinderten Menschen durch ihr Wirken Kraft zu geben, um weiterzumachen – egal, wie schwer es für sie ist. Sie kämpfen dafür, dass Betroffene den Glauben an sich selbst (zurück-)gewinnen, fördert ihr Selbstbewusstsein und beweist ihnen, dass sie Sehenden in nichts nachstehen müssen. Durch seine Aufgeschlossenheit und sein positives Mindset ist er nicht nur sportlich gesehen ein Vorbild für alle, die ihn kennen.

Bei manchen Vereinsmitgliedern ist das fehlende Augenlicht angeboren. Doch gibt es auch andere, die zum Teil schwere Schicksalsschläge ertragen mussten und Tragisches erlebt haben.
Gabor (71), Gründer Verein "Blind Jogging"

Das muss man als Blind-Jogging-Guide mitbringen:

  • Ausgezeichnete Augen und einen gut funktionierenden Hörsinn
  • Gute Gesundheit
  • Gute Deutsch- / bzw. Schweizerdeutschkenntnisse
  • Grosse Leidenschaft fürs Joggen
  • Die Fähigkeit, ununterbrochen eine Stunde zu joggen und sich bei 7km/h zu unterhalten
  • Ein grosses Herz für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen
  • Die Lust, sehbehinderten und blinden Menschen dabei zu helfen, ihr Leben noch lebenswerter zu gestalten und beim Joggen zu ihrem "Auge" zu werden
  • ca. 5 Stunden Zeit für die Guideausbildung (Kosten: 136 Franken, einmalig)
  • 2-3 Lauf-Praktika mit Sehbehinderten / Blinden

«In der Schweiz besteht noch Aufklärungsbedarf.»

Sein langjähriges Vereinsengagement gibt auch Gabor selbst viel Kraft. Denn er weiss, dass er es für eine gute Sache tut: Neben seinem persönlichen Einsatz für jedes einzelne Vereinsmitglied ist es ihm ein Anliegen, die Akzeptanz von Sehbehinderten in der Schweiz zu stärken und aufzuklären: «Blinde erfahren in der Schweiz heutzutage leider immer noch sehr viel Ablehnung im Alltag. Dem stehe ich äusserst kritisch gegenüber, denn ich weiss: Es kann wirklich jeden treffen.», so Gabor.

«Es findet auch viel zu wenig Aufklärung statt. Zum Beispiel wissen viele immer noch nicht, wofür die weissen Streifen am Boden an den Bahnhöfen sind und stellen ihre Koffer und Taschen drauf ab. Dabei sind das für sehbehinderte Menschen wichtigste Mittel zur Orientierung. Und mehr als das: Sie sind sogar überlebenswichtig, da sie die Menschen davor schützen, aus Versehen auf die Gleise zu geraten.» Gabor ist überzeugt: Es braucht dringend mehr Aufklärung: «Hierfür setzt sich unser Verein regelmässig mit Referaten und Vorträgen ein. Wir freuen uns, wenn wir zum Beispiel an Schulen, Unternehmen und verschiedenen Anlässen informieren können. Für mehr Verständnis. Für grössere Akzeptanz. Für ein besseres Miteinander.»

Vom «Couch Potato» zum grossen Vorbild:

Wie Gabor vor über 30 Jahren das Joggen für sich entdeckte…

«1989, gerade 40-jährig, war ich massiv übergewichtig und habe wie ein Kamin geraucht. Per Zufall bin ich an einen Laufkurs für Einsteiger geraten. Ich habe zugesagt und konnte mich – bereits nach den ersten 200 Metern – perfekt übergeben. Wochenlang hat sich beim Joggen das Gleiche abgespielt: Kopfweh, Schienbeinschmerzen, ein extrovertierter Magen, zitternde Knie beim Treppengang.» Nachdem er die ersten Monate dieser Strapazen hinter sich gebracht und die magische Grenze von 30 Minuten 'am Stück' erreicht hatte, nahm er schliesslich all seine Kräfte zusammen und meldete sich – bereits als Nichtraucher und mit ein paar Kilos weniger – an seinen ersten Lauf an: den Birslauf in Basel... «10 Kilometer!», sagt Gabor fröhlich. «Unterwegs habe ich jede Minute dieses Laufes verflucht, konnte aber nicht aufhören zu laufen, weil mich so viele ältere und vor allem korpulentere Läuferinnen und Läufer überholten. Seitenstechen, Luftmangel, schmerzende Gelenke, eine unendlich erscheinende Strecke. Aber nach etwa einer Stunde lief ich ins Ziel und lebte!» Was dann folgte? «Die nächsten Tage konnte ich meine Socken nicht alleine anziehen und die Treppen nur rückwärts runterlaufen. Muskelkater war angesagt.»

Er fährt mit dem Erzählen fort: «Nach diesem 'Erfolg' begann ich regelmässig zu trainieren und habe mich immer wieder an Laufveranstaltungen gewagt. Um das Leiden anderer Anfängerinnen und Anfänger als Trainer voll 'auskosten' zu können, begann ich Einsteigerkurse zu organisieren und leiten. Nach zahlreichen Weiterbildungen konnte ich bis heute Hunderte von Leuten zum Joggen motivieren, habe einige Lauftreffs in Basel organisiert und viele Wettkämpfe (in einem Joggingtempo von ca. 5 min/km) absolviert. Sogar mehrere Marathonläufe um die vier Stunden herum. 1998 habe ich als einer der ersten mit dem Aufbau einer Laufsport-Website begonnen. Heute ist
www.lauftreffbeiderbasel.ch eine der meistbesuchten Laufsport-Webseiten der Region Nordwestschweiz. Dann kam 2015 www.blind-jogging.ch hinzu.

…und was es ihm persönlich gebracht hat

Gabors Freude darüber, dass er einst mit dem Joggen begann, ist heute noch immer grenzenlos: «Dank dem Laufen ist mein Leben reicher, meine Ehe noch besser, die Beziehung zu meinen erwachsenen Töchtern noch harmonischer, meine berufliche Belastbarkeit wesentlich grösser und meine Nerven im Umgang mit meinen Enkelkindern stärker. Ich kann diese natürliche Bewegungsart jedem empfehlen. In jedem Alter, in jeder Lebenslage. Fragen bezüglich Motivation, Lauftreffs, Einstiegsmöglichkeiten ins Blind Jogging beantworte ich sehr gerne.»

Wie viele blinde und sehbehinderte Menschen leben heute in der Schweiz?

Eine Studie des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen (2020) besagt, dass in der Schweiz etwa 377 000 sehbehinderte Personen leben. Dies entspricht etwa 4 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Davon sind etwa 50 000 blind, das heisst sie können in den meisten täglichen Situationen kein Sehpotenzial nutzen. Der übrige, weit grösste Teil von Menschen mit Sehbehinderung nutzt - wenn es die äusseren Umstände erlauben - ein noch vorhandenes Sehvermögen.

Etwa 57'000 Personen leben gleichzeitig mit einer Hörbehinderung. Damit entsteht eine Situation, die Hörsehbehinderung genannt wird. Diese muss als eigenständige Behinderungsform verstanden werden, aus dem sich ganz neue und andere Herausforderungen ergeben, als wenn «nur» ein Sinn beeinträchtigt ist.

Quelle: Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband

Ekaterina Cámara

Redaktion

socialmedia@bkb.ch

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