Andrea Tortosa Vidal hat für das Interview nach Hause geladen, in einen schmucklosen Wohnblock im St. Johann. Kurz nach dem Termin kurvt die Primaballerina auf dem Velo an – ganz ausser Atem. «Sorry», keucht sie auf der Liftfahrt in den 6. Stock knapp durch die Maske, «das Training ging länger.» Momentan schwitzt sie allerdings nicht am Theater Basel sondern in der Rehab.
Nach einem Schluck Wasser am Wohnzimmertisch erklärt Tortosa nüchtern: «Die Bänder am linken Fussknöchel sind weg.» Gerissen bei einer Audition für ein neues Stück. Doch statt ihr physisches Drama beklagt sie, dass sie deswegen «Grande Finale» von Starchoreograph Hofesh Shechter nicht tanzen konnte: «Mein persönlicher Saisonhöhepunkt! Shechters Körpersprache ist unique. Er fordert deine ganze Kunst, Bewegungen zu kreieren, die emotional packen.»
Schon als Kind suchte ich Bestätigung, wollte überall eine perfekte Leistung liefern und die Beste sein.
Nun tanzen nicht nur ihre Gedanken im Ballettsaal: Torso, Arme und Hände schwingen in einer Art Spoken- Dance-Performance. Ihr Blick fixiert dagegen starr und streng das Gegenüber, als wolle sie prüfen, ob ihre Begeisterung wirklich ankommt. Dann knallt ihre Faust auf die Tischplatte – und Bamm: sacken auch die Schultern. Ihr Blick richtet sich nun doch auf den Fuss. Ein kerniges «Joder!» beendet ihr sarkastisches Lachen: «Diesmal war nicht das Coronavirus schuld, dass ich nicht vor Publikum tanzen konnte.»
Sie vermisse die Bühnenabende hart. «Das Kribbeln, die Nervosität vor dem Auftritt – dann der Applaus, der Kick als Belohnung für eine gute Leistung.» Erst jetzt realisiere sie, wie wichtig das direkte Feedback ist für ihre Motivation: «Schon als Kind suchte ich Bestätigung, wollte überall eine perfekte Leistung liefern und die Beste sein.» In ihrem Kinderzimmer stapelten sich auch Schachtrophäen. Ihr Club sah in Tortosa eine künftige schlagende Königin. Doch je grösser die Turniere, desto mehr verleidete ihr das Strategiespiel: «Ich bin viel zu unsicher für direkte Duelle um Sieg und Niederlage.» Tanzen sei da viel befriedigender: «Da muss ich nur mit mir selber kämpfen.»
Ballett verlangt viele Opfer und bedeutet Leiden. Dauernd hörst du: Du bist zu klein, zu dick, hast falsche Füsse und springst nicht hoch genug!
Mit zwölf Jahren überzeugte Tortosa ihre Eltern, sie an eine der besten Ballettschulen Spaniens ins 500 Kilometer nördlich gelegene Zaragoza ziehen zu lassen. Dort wohnte sie erst bei Pflegegrosseltern, dann in einem Kloster. «Die Nonnen hatten kein Verständnis, dass wir bis zehn Uhr abends trainierten und dauernd zu spät zum Nachtessen kamen.»
Oft lag Tortosa hungrig im Bett und weinte bittere Tränen. Es war alles andere als ein Mädchentraum. «Ballett verlangt viele Opfer und bedeutet Leiden. Dauernd hörst du: Du bist zu klein, zu dick, hast falsche Füsse und springst nicht hoch genug!» Umso befreiender war, als sie mit 16 Jahren im Ausgang «normale Leute» kennenlernte. Den «Ausgleich zur Ballettwelt» suchte Tortosa später auch in Amsterdam, wo sie ans renommierte Nederlands Dans Theater berufen wurde. Nach Schulschluss tauschte sie ihre Ballettschuhe gegen Springerstiefel und hing mit den Punks im Park ab. Damals schwor sie: «Mit 28 Jahren trete ich als Primaballerina von der Bühne ab und starte ein normales Leben.»
Der Einstieg in die Profikarriere gelang am Theater Basel. Tortosa gehörte zu den zwei Glücklichen aus 200 Bewerberinnen und Bewerbern, die einen Stagiaire- Platz erhielten. Zwei Jahre später feierte sie ihre Premiere als Primaballerina. Der italienische Gastchoreograph Mauro Bigonzetti wählte Tortosa für die Hauptrolle. «Mein Name zuoberst auf dem Cast-Aushang – das werde ich nie vergessen! » Ein Glucksen und Tortosa schwelgt weiter: «Wir Tänzer*innen warten immer nervös auf den Moment, wo der Cast, der Zettel mit der Rollenzuteilung, am Board vor den Garderoben hängt.» Dies sei manchmal schon nach der ersten Probe, teils auch erst zwei Wochen vor der Premiere. «Wer den Cast sieht, fotografiert ihn sofort für den Ensemble-Chat.» Sie habe den Zettel damals als Erste gesehen und machte auch Fotos. Dann ergänzt sie verlegen: «In den Chat hab ich nichts geschickt, weil ich der Sache nicht ganz traute.»
Mein Name zuoberst auf dem Cast-Aushang – das werde ich nie vergessen!
Das Meisterstück ist der gut getimte Bühnenabgang.
Mit 28 Jahren war dann auch nix mit Ausstieg. Über ihre Punker-Pläne schüttelt die Primaballerina heute ihre langen Locken: «Lange dachte ich, der Start sei der schwierigste Schritt einer Tanzkarriere. Heute weiss ich: Das Meisterstück ist der gut getimte Bühnenabgang.» Viele Ballettprofis hören zu spät auf, wenn der Körper kaputt ist von den Strapazen. «Tanzkarrieren können für Träumer*innen böse enden», weiss Tortosa.
Dann grinst sie angriffslustig: «Nein, meine Karriere ist nun nicht tragisch beendet!» Als 34-Jährige Ballerina habe sie schon vor der gravierenden Diagnose Zukunftspläne geschmiedet: «Ich will eine eigene emotionale Tanzsprache entwickeln und vermitteln, die mehr auslöst als: Oh, es war schön!» Schon länger ist sie auch neben dem Theater Basel aktiv: Sie unterrichtet, choreographiert Stücke und organisiert genreübergreifende Projekte mit ihrem Lebenspartner, dem Kunst- und Musikschaffenden Janiv Oron. Besonders ans Herz wuchs Tortosa ihr erstes Education-Projekt mit einer Fachmaturklasse. «Anfangs traf ich auf Ablehnung aus Unsicherheit.» Teenager halt. «Dann zu erleben, wie die jungen Menschen über die Bewegung ihre eigene Tanzsprache entwickelten – und am Ende gar zu hören, das Tanzen habe ihr Leben verändert: Das war wundervoll.»
Wird das Leben je wieder so, wie wir es kennen und lieben?
Das Stück wurde nie öffentlich aufgeführt – die Premiere fiel auf den Lockdown. Damit begannen auch sorgenvolle Monate. Als Angestellte des Theater Basel könne sie sich zwar zu den glücklichen Kulturschaffenden zählen, die weiter Lohn erhalten, dennoch drückten düstere Gedanken: «Wird das Leben je wieder so, wie wir es kennen und lieben?» In der Zwangspause habe sie gespürt, wie wichtig Tanzen für sie ist. Umso grösser die Freude, als es wieder losging. «Technisch war vielleicht nicht alles perfekt. Aber ich spürte die Form meines Lebens, weil Emotionen für meinen Ausdruck wichtiger sind.»
Dann der Knick des Knöchels und die niederschmetternde erste Diagnose nach dem MRI: «Da ist nichts! Also: Da ist kein einziges Band mehr da», staunte der Arzt. Das hiess: Schluss mit Sprüngen, aus mit Ballett. «Dann fand man doch noch ein angerissenes Band» – ein zarter Hoffnungsfaden, der die letzten Wochen dank hartem Training unter einem Spezialistenteam zu einem starken Strang gewachsen ist.
«Joder!» – wieder knallt Tortosas Faust auf den Tisch, doch diesmal streckt sich ihr Rücken und ihr Blick brennt beim Gegenüber mögliche Zweifel weg: «Grande Finale von Shechter kommt nach Corona nochmals auf die grosse Bühne: Und ich werde tanzen!»